Die große Sagenreise

Eine Palette verschiedenster Sagen, die ihre Vielfalt zeigt. Manche können Kindern direkt erzählt werden, andere ganz und gar nicht. Manche sind abergläubisch, andere von tiefster Weisheit geprägt, manche chronistisch aufzählend, andere im schönsten Stil „gesagt“. Ein Beispiel aus jedem Bundesland, außer Berlin und Saarland und eines aus Österreich und der Schweiz. Viel Freude am Entdecken! Möge das Beispiel Dich anregen, den ganzen Sagenkreis deiner Gegend zu erforschen!

Baden-Wuerttemberg

KINDERWALLFAHRT

 Im Jahre 1448 hat es sich zugetragen, dass zu Schwäbisch-Hall am Donnerstage nach Pfingsten plötzlich eine Sucht die Knaben überkam, nach Sankt Michael in der Normandie zu wallfahren, und gingen ihrer über zweihundert an der Zahl wider den Willen ihrer Eltern auf einmal von dannen, denn sie wurden von dieser Sucht ganz schnell und plötzlich erregt und ließen sich nicht einmal von ihren eigenen Müttern halten, auch erfolgte bei einigen, welche mit Gewalt zurückgehalten wurden, alsbald der Tod. War wohl, wie ein alter Chronikenschreiber sagt, eine seltsame und wunderliche Begeisterung. Da sich die Knaben nicht halten ließen, so gab ihnen der für das Wohl der Stadtkinder besorgte Rat zum Geleit einen Schulmeister und einen Esel mit, damit ihnen nichts Böses zustoße. In so guter Gesellschaft mag wohl die weite Reise und Betfahrt glücklich vonstatten gegangen sein. Nachderhand erfolgte eine große Pest, und war es vielleicht Gottes Hand, welche den Knaben winkte, dieser zu entgehen. Wunders genug war es, dass diese Knaben so weit außer Landes begehrten und zogen, da es doch im Schwaben- wie im benachbarten Franken- und Bayernlande der berühmtesten Wallfahrtsorte eine übergroße Menge gab.

(Ludwig Bechstein, Dts. Sagenbuch, Leipzig 1853)


Bayern

ZWERGE LEIHEN BROT

Der Pfarrer Hedler zu Selbitz und Marlsreuth erzählte im Jahr 1684 folgendes: Zwischen den zweien genannten Orten liegt im Wald eine Öffnung, die insgemein das Zwergenloch genannt wird, weil ehedessen und vor mehr als hundert Jahren daselbst Zwerge unter der Erde gewohnet, die von gewissen Einwohnern in Naila die notdürftige Nahrung zugetragen erhalten haben. Albert Steffel, siebenzig Jahr alt und im Jahr 1680 gestorben, und Hans Kohmann, dreiundsechzig Jahr alt und 1679 gestorben, zwei ehrliche, glaubhafte Männer, haben etlichemal ausgesagt, Kohmanns Großvater habe einst auf seinem bei diesem Loch gelegenen Acker geackert und sein Weib ihm frischgebackenes Brot zum Frühstück aufs Feld gebracht und in ein Tüchlein gebunden am Rain hingelegt. Bald sei ein Zwergweiblein gegangen kommen und habe den Ackermann um sein Brot angesprochen: ihr Brot sei eben auch im Backofen, aber ihre hungrigen Kinder könnten nicht darauf warten, und sie wolle es ihnen mittags von dem ihrigen wiedererstatten. Der Großvater habe eingewilligt, auf den Mittag sei sie wiedergekommen, habe ein sehr weißes Tüchlein gebreitet und darauf einen noch warmen Laib gelegt, neben vieler Danksagung und Bitte, er möge ohne Scheu des Brots essen, und das Tuch wolle sie schon wieder abholen. Das sei auch geschehen, dann habe sie zu ihm gesagt, es würden jetzt so viele Hammerwerke errichtet, dass sie, dadurch beunruhigt, wohl weichen und den geliebten Sitz verlassen müßte. Auch vertriebe sie das Schwören und große Fluchen der Leute, wie auch die Entheiligung des Sonntags, indem die Bauern vor der Kirche ihr Feld zu beschauen gingen, welches ganz sündlich wäre. Vor kurzem haben sich an einem Sonntag mehrere Bauernknechte mit angezündeten Spänen in das Loch begeben, inwendig einen schon verfallenen, sehr niedrigen Gang gefunden; endlich einen weiten, fleißig in den Felsen gearbeiteten Platz, viereckig, höher als mannshoch, auf jeder Seite viel kleine Türlein. Darüber ist ihnen ein Grausen angekommen, und sind herausgegangen, ohne die Kämmerlein zu besehen. 

(Brüder Grimm: Deutsche Sagen)


Brandenburg

DER LETZTE GROSCHEN

In der Mark Brandenburg kam, als im Lande Teuerung herrschte, ein armer Bauer zu einer Edelfrau und klagte über seine große Not. Er habe eine kranke Frau und viele kleine Kinder und für sie alle nichts zu essen. Die Edelfrau möge ihm doch einen Scheffel Korn vorstrecken. Sie aber schlug die Bitte ab; sie könne nur gegen Bezahlung das Korn geben. Der Mann ging fort und bettelte und suchte das Geld zu leihen, und er brachte es mit großer Not zusammen. Doch fehlte ihm ein Groschen. Wieder ging er zur Edelfrau und zählte ihr das Geld vor. „Aber da fehlt ja noch ein Groschen!“, sagte sie hart. Der arme Mann flehte sie an, aber sie wollte ohne den fehlenden Groschen kein Korn geben. Weinend ging der Arme fort und endlich gelang es ihm, auch den letzten Groschen zu leihen. Damit ging er nun wieder zur Edelfrau und legte ihn ihr in die Hand. Dabei fiel das Geld hin. Sie bück-te sich danach, doch da verwandelte sich das Geldstück in eine große Schlange. Die biss die Frau und sie war nach drei Tagen tot. 

(Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch)

Bremen

DIE BREMER GLUCKHENNE

Der Himmel war trübe und bewölkt und schaute drohend herunter auf ein Häuflein armer heimatloser Menschen, Männer, Weiber und Kinder, die mit ihren Kähnen mitten im Strom fischten. Sie hatten sich den Ueberfällen ihrer mächtigen Nachbarn entzogen; ihr ärmlicher Besitz freilich war nicht geeignet, die Raublust derselben zu reizen. Denn sie hatten nichts als ein paar Bretterhütten und ihre Kähne und Netze. Die hätten sie gern hingegeben, wenn sich der Feind damit hätte abfinden lassen, konnten sie doch diesen Verlust in wenigen Tagen ersetzen. Aber sie hatten noch ein anderes Gut, das der Feind anzutasten drohte, das war die Freiheit. Die hielten sie höher als Gold und wollten sie sich bewahren, um jeden Preis, selbst mit Aufopferung der geliebten väterlichen Wohnsitze. So lagen sie denn im Flusse und spähten umher, ob nicht irgend ein günstiges Vorzeichen zu entdecken sei. Denn der Ort war so heimlich und der Fluß so fischreich, dass sie sich gern an diesem Ufer niedergelassen hätten. Aber es ward Abend, und sie waren sehr traurig, dass die Geister des Landes ihnen kein Zeichen gesandt und zu sich eingeladen; sie jammerten und wehklagten und waren trostlos, dass sie nun weiter ziehen müßten aus dieser schönen Gegend. Jetzt drang plötzlich ein Strahl der sinkenden Sonne durch das Gewölk und erhellte die ganze Landschaft mit einem wundersamen Glanz. Da bemerkten sie eine Henne, die sich und ihren Küchlein einen sichern Ruheplatz suchte für die Nacht, und jubelnd sprang alles Volk aus den Schiffen, um der Henne zu folgen, die mit ihrer kleinen Schaar einen Hügel hinanging und sich mit ihrer Brut im hohen Heidekraut verbarg. Sie beschlossen nun, dies Ereigniß, worin sie ein Bild und Spiegel ihrer eignen Lage erblickten anzusehen als ein günstiges Zeichen und an der Stelle, wo die Henne ein schützendes Obdach gefunden, ihre Hütten wieder aufzuschlagen. Dieser Hügel sollte fortan der Hort der Freiheit sein. So wurde in uralter Zeit der Grund gelegt zu der Stadt Bremen, und da die neuen Ansiedler sich hauptsächlich vom Fischfange nährten, so mag man mit vollem Rechte sagen, dass das Fischeramt das älteste sei in der Stadt. Die Henne aber mit ihren Kleinen sieht man deutlich ausgehauen über dem zweiten Rathausbogen und gilt noch heutigen Tags weit und breit für ein Wahrzeichen der Stadt Bremen. 

(Bremen’s Volkssagen 1845)

Hamburg

DIE HAND DES HIMMELS

In Blankenese war ein junger Fischer; dem ging’s unglücklich, und es wollte ihm mit dem Fange gar nicht gelingen. Er geriet in Mangel und Elend, und Frau und Kinder mußten Hunger leiden. Einmal war’s ein heißer Sommertag gewesen. Als aber gegen Abend ein Gewitter im Westen mit der Flut aufstieg, entschloß sich der Fischer, noch eine Fahrt zu wagen, weil er gehört hatte, dass in solchen Augenblicken die Fische am besten ins Garn gingen. Er stieg ins Boot und fuhr auf die Elbe hinaus, obgleich alle ihn warnten und das Wasser schon dunkel und unruhig ward. Kaum aber hatte er seine Netze ausgeworfen, so konnte er sie auch schon wieder auf ziehen, und in einem Augenblick war seine Jolle voll. Da wollte er noch einen Zug versuchen und die Netze noch einmal auswerfen, als ein fürchterlicher Donnerschlag über ihm losbrach und ihn erschreckte. Wie er wieder zu sich kam, sah er mitten auf den Fischen eine weiße Totenhand liegen. Da setzte er rasch die Segel auf und wie ein Pfeil schoß seine Jolle dem Strande zu. Es war ein Glück für ihn, dass er sich hatte warnen lassen und Gott nicht länger versucht hatte. Die Totenhand hängte er nachher als Wahrzeichen in der Nienstedtener Kirche auf, und sie ist lange noch da zu sehen gewesen, da sie ganz unverwest blieb. Man nannte sie die Hand des Himmels. Als sie endlich herunterfiel, verbrannte man sie zu Asche und bereitete eine Oblate daraus, die bis auf den heutigen Tag gezeigt wird. Der Fischer ward seit jenem Tage ein reicher und begüterter Mann, weil, wie man sagte, die Hand des Himmels über ihm war. 

(Sagen, Märchen und Lieder, Schleswig 1921)


Hessen

NOT GOTTES

Zu Rüdesheim am Rhein bewohnte das mannliche Geschlecht der Brömser von Rüdesheim ihre uralte graue Feste, deren Aufbau in die Römerzeit fällt, und weiter stromabwärts an der Waldberger Höhe ist das Kloster gelegen, welches den wunderbarlichen Namen Not Gottes trägt. Ein Brömser von Rüdesheim zog nach Palästina, tat allda viele mannliche Taten, bezwang viele Sarazenen und kämpfte mit einem Drachen, den er auch erlegte, aber bei dieser Gelegenheit oder bald darauf fiel er in die Hände der Ungläubigen, die ihm schwere Ketten zu tragen auferlegten. Da gelobte er in seinem Kerker, seine Tochter, die er als ein junges Kind verlassen, dem Himmel zu weihen, wenn sie am Leben bleibe und er in die Heimat zurückkehre. Und siehe, des Ritters Ketten fielen von ihm ab, der Himmel nahm das dargebotene Opfer an, der Ritter entkam und eilte der Heimat zu. Freudvoll empfing ihn seine schön erblühte Tochter, und er offenbarte ihr sein Gelübde. Da wurde die Tochter bleich wie der Tod - sie war in Minne einem jungen Ritter zugetan, dessen Hand zugesprochen zu erhalten sie von ihrem Vater zuversichtlich gehofft. Aber es halfen nicht Flehen, nicht Tränen, der Vater glaubte dem Himmel vor allem schuldig zu sein, sein ritterliches Wort zu halten. Da enteilte die Tochter laut wehklagend der Brömserburg, erklimmte den nächsten Felsen und stürzte sich in den Strom hinab. - Groß war des Vaters Schmerz, und da er nun sein Gelübde nicht halten konnte und um des teuern Kindes Schatten zu söhnen, tat er ein abermaliges Gelübde, er wollte ein Kloster erbauen. Es ging aber ein Mond nach dem andern hin, und mochte wohl so kommen, dass der alte Brömser durch alten Rüdesheimer seinen Schmerz hinwegbannte und darob sein Gedächtnis etwas schwach ward - da hatte er einmal ein nächtliches Gesicht: der Drache, den er in Palästina erlegt, war wieder bei ihm und lebendig und fauchte ihn mit weitaufgesperrtem Rachen an und drohte ihn zu verschlingen mit Haut und Haar - da sah er die Gestalt seiner Tochter, die winkte den Drachen hinweg und blickte gar wehmutsvoll auf den Brömser und verschwand. Am Morgen aber kam des Brömsers Ackerknecht und sagte an, wie er in aller Frühe mit dem Pflug und den Stieren zu Acker gezogen sei, habe er eine klagende Stimme vernommen die immerfort gerufen: Not Gottes! Not Gottes! Und die Stiere hätten nicht anziehen wollen, sondern immer am Boden gescharrt. Sogleich begab sich Ritter Brömser selbst hinaus auf das Ackerfeld, und da vernahm er dieselbe wehklagende Stimme: Not Gottes! Not Gottes!, die ganz in der Nähe von der Stelle drang, wo die Ochsen standen und scharrten, und zwar kam die Stimme aus einem hohlen Baume. Der Ritter rief und suchte, aber er entdeckte nichts, da ließ er den Baum spalten, und da entdeckte sich innen am Boden des hohlen Stammes eine Monstranz mit dem heiligen Leib und ein hölzernes Bild des Schmerzensmannes. Als diese Kleinode dem Baum entnommen waren, schwieg die Stimme, und die Stiere waren ruhig. Ein Dieb hatte beide heiligen Stücke aus einer nahen Kirche entwendet und allda verborgen. Das erinnerte nun den Brömser stark an die Erfüllung seines Gelübdes; er gründete ein Kloster, ließ an des hohlen Baumes Stelle den Altar aufrichten und stellte das Christusbild darauf, und geschahen zu dem Kloster, das Zur Not Gottes genannt ward, und zu dem Bilde viele Wallfahrten rheinab und -auf, dass öfters an einem Tage sechzehntausend andächtige Waller da waren, und das Bild tat vordem große Wunder. 

(Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch)


Mecklenburg-Vorpommern

SANKT NIKOLAUS IN GREIFSWALD

Zu Greifswalde hat in einer der Kirchen daselbst ein hölzern Bildnis des heiligen Nikolaus gestanden. In diese Kirche brach nächtlicherweile ein Dieb ein, wollte den Gotteskasten erbrechen und das darin befindliche Geld enttragen. Da erhob Sankt Nikolaus’ Bild drohend den Arm gegen den Dieb. Der aber war unerschrocken und sprach: Lieber Herr Sankt Nikolaus, ist das Geld im Kasten dein oder ist es mein? Weißt du was? Wir wollen darum laufen, wer zuerst an den Kasten kommt, dem soll das Geld sein. Und lief also stracklich durch das lange Schiff der Kirche dem Chore zu, aber siehe da, das Bild lief auch und stand am Kasten, als der Dieb hinzukam. Ei, Sankt Nikolaus! rief der Dieb, du könntest fürwahr beim Herzog oder Markgrafen Laufer werden, du hast gewonnen, aber was in aller Welt nützt dir das Geld? Wäre ich, wie du, von Holz und hätte nimmer Durst noch Hunger, wollt ich keines Geldes begehren! Darum habe ein Einsehen und ein Nachsehen und gönne mir das Geldlein. Damit brach er den Gotteskasten auf, nahm kecklich das Geld und trug es von dannen. Aber bald darauf starb dieser Dieb und wurde ehrlich begraben, denn niemand wußte, dass er ein Kirchenräuber war. Da sind die Teufel aus der Hölle heraufgestiegen, haben seinen Leib aus dem Grabe geholt und ihn bei den beraubten Gotteskasten niedergeworfen, darauf aber ihn draußen vor der Stadt an die Flügel einer Windmühle gehenkt. Von diesem Augenblicke an drehten die Flügel dieser Windmühle sich links und liefen links herum, solange sie stand, zum Wahrzeichen des Unrechts und des Unrechten. 

(Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch)


Niedersachsen

DIE EERDMANNTJES

Unter der Erde wohnten vorzeiten die Eerdmanntjes. Im Plytenberg bei Leer hausten sie mit ihrem König. In den Nächten, wenn das Mondsilber vom Himmel fiel, sah man oft auf dem Hammrich ihre Wäsche bleichen. Und die Schiffer hörten in strengen Wintern manchmal an stillen Abenden ein geheimnisvolles Knacken im Eise; dann wussten sie, dass die Eerdmanntjes Schlittschuh liefen. Einmal, an einem sternlosen Abend, glaubte der Fährmann von Leerort ein Rufen zu hören. Er ging der Stimme nach und sah am Ufer ein graues Männlein, das fortwährend rief: „Fahr over! Fahr over!“. Der Fährmann brummte zwar, dass er für einen so kleinen Gast fahren sollte, aber er schickte sich doch an, das Boot loszumachen. Doch das Eerdmanntje bat ihn, die große Pünte zu nehmen, denn es seinen viele, die mitwollten. Der Fährmann tat ihm den Willen, und das Manntje stieg ein, aber sonst war niemand zu sehen. Als der Fährmann vom Ufer abstoßen wollte, sagte es: „Wacht, noch neet!“ Und es wurde ein Wispern vernehmbar, als wenn der Wind durch das Schilf strich, aber zu sehen war nichts. Nur die Pünte sank tiefer und tiefer, als ob sie Lasten trüge, und endlich sagte das Eerdmanntje: „Fahr over!“ Als der Fährmann am anderen Ufer anlegte, fragte das Manntje, was er dafür haben müsste. „Föhr de Kopp een Stüber“, sagte er. Da bekam er einen ganzen Topf voll, wohl an die tausend Stüber, und langsam hob sich die Pünte wieder. Das leise Wispern aber schwoll an zu einem dumpfen Klagen: „Uns König is doot! Uns König is doot! Nu mutten wi all to `t Land herut!“ und verlor sich dann in der dunklen Weite. Die Eerdmanntjes vom Plytenberg aber blieben seitdem verschwunden. 

(Ostfriesische Sage)


Nordrhein-Westfalen

DER RIESE ALS KNECHT

Einer von den Söhnen des Hünen auf dem Haldemer Berge diente bei dem Herrn von der Horst zu Haldem. Seine erste Arbeit war Misten. Als er aber die Forke in die Hand bekam, sprach er: „Das ist ja eine Gabel, womit man die großen Bohnen isst.“ Er ging also zur Schmiede und ließ sich eine größere Forke machen. Da war denn jeder Stall voll auch eine Forke voll. Das gefiel dem Herrn. Da musste der Riese auch pflügen. Er schob aber den Pflug mit der Hand, immer den Pferden auf die Hacken. Der Herr sprach: „Das ist nicht nötig, die Pferde sind darum vorgespannt, dass sie ziehen sollen.“ Der Riese erwiderte: „Die Pferde sind nur zum Staate da, sonst kann man den Pflug mit einer Hand gut schieben.“ Das gefiel dem Herrn alles sehr wohl. Als es aber an die Mahlzeit ging, da verdross es den Herrn bald, denn der Riese aß nicht für zwei, drei, vier, sondern für die ganze Haushaltung. Da wollte der Herr ihn wieder los sein und sprach zu seinen Knechten: „Morgen früh sollt ihr Holz vom Berge holen, ein jeder seine bestimmten Stämme, und wer von euch der Letzte auf dem Platze ist, der soll fort.“ Der Riese war ziemlich schläfrig und da dachten die andern, ihn im Schlaf zu betrügen. Sie fuhren schon früh am Morgen aus. Einige Stunden später erwachte der Riese und sah, dass die andern Knechte schon fort waren. Er aber entschloss sich schnell, spannte in Eile die Pferde an und jagte den andern nach. Als er am Berge ankam, da hatten die ihr Holz schon gehauen und luden es auf. Der Riese aber griff die Bäume an, riss sie aus und warf sie auf den Wagen mit Wurzel und Erde. Da war er der Erste, der sein Fuder voll hatte, und als er vom Berge kam, konnten es die Pferde nicht ziehen. Da freuten sich die andern und wollten an ihm vorbeijagen. Er aber entschloss sich kurz, band die Pferde an den Füßen zusammen und hing sie quer über den Wagen, steckte den kleinen Finger ins Deichselloch und fuhr so schnell damit weg. Als er aber vor den Hof kam, konnte das Tor den Wagen nicht fassen. Da drängte er ihn hinein und brachte das ganze Tor mit auf den Platz. Jetzt war der Herr wieder verlegen, was er nun mit ihm anfangen sollte. Da wollte er in der Güte mit dem Riesen handeln, damit er aus seinem Dienst gehen solle. Der Riese sprach: „Ich will dir einen Schlag geben; wenn du den aushalten kannst, dann will ich gehen.“ Da kam dem Herrn das Beben. Doch dachte er: „Du wirst ihn sonst nicht los“, und ging darauf ein. Da gab ihm der Riese einen Schlag auf den Hintern, dass er über das Haus hin flog. Der Wind aber hielt ihn in seinem Mantel, sodass er langsam herunterkam, ohne Schaden zu nehmen. So wurde er des Riesen ledig. 

(Westfälische Sagen, 1927)


Rheinland-Pfalz

DAS STEINERNE BROT

Im Dreißigjährigen Kriege wurde das Brot so rar, dass selbst der reichste Bauer in Alßen seinen Ältesten ins Martertal zum Kloster schickte, bei den Brüdern dort etwas gegen den ärgsten Hunger zu erbetteln. Der Junge bekam auch einen ganzen großen Laib und ging vergnügt damit heim. Als er an die Endertbrücke kam, saß da ein Weib mit einem kleinen Kinde, so matt vor Hunger, dass sie nicht mehr bis zum Kloster hinaufkonnte, und flehte ihn um ein Stück Brot an. Aber er ging weiter und sagte, er hätte überhaupt kein Brot, er hätte bloß eine Wacke geholt zum Beschweren für das Kraut, das sie zu Hause eingeschnitten hätten. Um nicht noch einmal angebettelt zu werden, ging er von der Straße herunter querfeldein nach Hause. Als aber der Vater dann das Brot anschneiden wollte und die hungrigen Geschwister sich schon freuten, da wollte das Messer nicht in das Brot gehen; das war zu Stein geworden. Da erschrak der Bursche; ihm fiel ein, was er der armen Frau vorgelogen hatte. Und als er ‘s dem Vater sagte, schickte ihn der sofort zurück nach der Brücke. Er fand auch die Mutter mit dem Kleinen noch, aber sie waren tot. Da ging er zum Kloster hinauf, beichtete seine Sünde und bat, sie möchten ihn aufnehmen für immer; er wolle auch die härteste und niedrigste Arbeit tun. Nach einigen Tagen durfte er auch ins Kloster kommen und er brachte das steinerne Brot mit. Der Prior ließ es in der Kirche aufbewahren, sodass alle Leute, die dahin kamen, es sehen konnten. Als später die Kirche zerfiel, ist es mit verschüttet. 

(Rheinland-Sagen, 1924)


Sachsen

DER TRAUM ZEIGT AN

Einst erschien einem Bergmann nachts im Traum ein Engel. Der sagte: „Geh in den dicken Wald zu dem Baume, den ich dir jetzt zeige. Dort wirst du ein Nest mit güldenen Eiern finden.“ Und als der Tag kam, ging der Bergmann in den dicken Wald und fand den Baum. Aber wie er auch in den Zweigen und im Wipfel suchte, das Nest fand er nicht. Da stieg er traurig aus dem Gezweig. Alsbald erschien der Engel wiederum vor ihm und sagte: „Schlag an dem Baum ein, so wirst du das Nest mit den güldenen Eiern wohl treffen.“ Da ist der Bergmann dem Befehl des Engels gefolgt, hat geschürft und hat einen reichen Silbergang entblößt. Da sind von allen Orten und Enden viele Fremde gekommen, das neu von Gott bescherte Glück zu sehen. Da ist die Stadt Annaberg an diesem Ort entstanden. 

(Sächsische Sagen, 1926)

 

Sachsen-Anhalt

DIE ELBJUNGFER UND DAS SAALWEIBLEIN

Zu Magdeburg weiß man von der schönen Elbjungfer, die zuweilen aus dem Fluß heraufkam, um an dem Fleischermarkt einzukaufen. Sie trug sich bürgerlich, aber sehr reinlich und sauber, hatte einen Korb in der Hand und war von sittsamer Gebärde. Man konnte sie in nichts von andern Mädchen unterscheiden, außer, wer genau achtgab und es wußte, der eine Zipfel ihrer schloßenweißen Schürze war immer naß, zum Zeichen ihrer Abkunft aus dem Fluß. Ein junger Fleischergesell verliebte sich in sie und ging ihr nach, bis er wußte, woher sie kam und wohin sie zurückkehrte, endlich stieg er mit ins Wasser hinab. Einem Fischer, der den Geliebten beistand und oben am Ufer wartete, hatte sie gesagt, wenn ein hölzerner Teller mit einem Apfel aus dem Strom hervorkommen sei’s gut, sonst aber nicht. Bald aber schoß ein roter Strahl herauf, zum Beweis, dass den Verwandten der Elbjungfer der Bräutigam mißfallen und sie ihn getötet. Es gibt aber hiervon auch abweichende andere Erzählungen, nach welchen die Braut hinabgestiegen und der Jüngling am Ufer sitzengeblieben war, um ihren Bescheid abzuwarten. Sie wollte unten bei ihren Eltern um die Erlaubnis zur Heirat bitten, aber die Sache erst ihren Brüdern sagen; statt aller Antwort erschien oben ein Blutflecken; sie hatten sie selbst ermordet. - Aus der Saale kamen auch zuweilen die Nixfrauen in die Stadt Saalfeld und kauften Fleisch auf der Bank. Man unterschied sie allein an den großen und gräßlichen Augen und an dem triefenden Schweif ihrer Röcke unten. Sie sollen vertauschte Menschenkinder sein, statt deren die Nixen ihre Wechselbälge oben gelassen haben. Zu Halle vor dem Tore liegt gleichfalls ein rund Wasser, der Nixteich genannt, aus dem die Weiber kommen in die Stadt, ihre Notdurft zu kaufen, und ebenmäßig an ihren nassen Kleidersäumen zu erkennen sind. Sonst haben sie Kleider, Sprache, Geld wie wir andern auch. Unweit Leipzig ist ein Nixweiblein oft auf der Straße gesehen worden. Es ist unter andern Bauersweiblein auf den Wochenmarkt mit einem Tragkorbe gegangen, Lebensmittel einzukaufen. Ebenso ging es auch wieder zurück, redete aber mit niemandem ein einziges Wort; grüßte und dankte auch keinem auf der Straße, aber, wo es etwas einkaufte, wußte es so genau wie andere Weiber zu dingen und zu handeln. Einmal gingen ihr zweie auf dem Fuß nach und sahen, wie sie an einem kleinen Wasser ihren Tragkorb niedersetzte, der im Augenblick mit dem Weiblein verschwunden war. In der Kleidung war zwischen ihr und andern kein Unterschied, außer dass ihre Unterkleider zwei Hände breit naß waren. 

(Brüder Grimm: Deutsche Sagen)


Schleswig-Holstein

DIE GETREUE ALTE

 Zu Husum sollte einst ein Winterfest gefeiert werden auf dem Eise, denn das Eis war fest. Zelte wurden aufgeschlagen auf der herrlichen blanken Fläche zwischen dem Ufer und der Insel Nordstrand, Schlittschuh lief, was laufen konnte, Stuhlschlitten flogen dahin, Musik und Tanz, Lied und Becherklang verherrlichte den schönen Tag und die nahe lichthelle Mondnacht, die den Jubel noch vermehren sollte, denn schon ging der Mond auf. Alles und alles war hinaus aufs Eis und machte sich lustig, nur ein steinaltes Mütterlein war zurückgeblieben, hatte die Weltlust hinter sich, und wenn sie ja wollte, konnte sie hinaus und hinab aufs Eis sehen, denn ihr Häuslein stand auf dem Damme. Und sie tat’s, sie sah gegen Abend hinaus und sah im Westen ein Wölkchen über die Kimmung heraufziehen, da befiel sie große Angst, denn sie war eines Schiffers Witwe und kannte die See und die Zeichen von Wetter und Wind. Sie rief, sie winkte - niemand vernahm sie, niemand blickte nach ihr - aber das Wölkchen wuchs zusehends und war ein Bote der Flut und schnell umspringenden Windes von Nord nach West. Und wenn die auf dem Eise nur noch eine halbe - eine Viertelstunde zögerten, so war es um sie getan, so stand Husum menschenleer. Wie die Wolke wuchs, zusehend, riesengroß, schwarz - wie sie schon den lauen Windhauch spürte, wuchs auch der Alten unsagliche Angst - und sie war allein, krank, halb gelähmt, machtlos. Dennoch ermannt sie sich, kriecht auf Händen und Füßen zum Ofen, nimmt einen Brand, zündet das Stroh ihres eignen Bettes an und kriecht zur Türe des Häuschens hinaus. Bald schlägt die Flamme aus dem Fenster, hinauf zum Dach, des Sturmes Odem facht hellodernde Glut an, und: Feuer! Feuer! schreit es auf dem Eise, und die Zelte werden verlassen, die Schlittschuhläufer fliegen dem Strande zu, die Schlitten lenken sich heimwärts. Und da faucht schon der Wind über die Eisfläche, da pocht’s schon drunten und poltert, und wie Kanonendonner kracht das Eis in der Ferne. Die schwarze Wolke überzog den Mond und den ganzen Himmel, wie ein Leuchtturm flammt das Haus der Witwe und zeigt den Heimwärtseilenden die sichere Bahn. Wie die letzten am Strande sind, rollt die Flut ihre Wogen über das Eis und reißt Zelte und Tonnen, Wagen und Zechgeräte in ihre rauschenden Wirbel. Die arme Alte hatte ihr Häuschen geopfert, die Bewohner ihrer Stadt zu retten. Es wird ihr ja wohl nicht unvergolten geblieben sein. 

(Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch)

Thüringen

DIE KELLE

Von der Kelle, einer viel besuchten Gipshöhle, die früher viel anders und schöner sich darstellte als jetzt, nachdem sie allmählich in sich zusammengebrochen, geht manche Sage. Der ursprüngliche Name ist Kehle, soviel als Schlund, und die Sage will, dass dieser schöne, aber auch schaurige Schlund alljährlich ein Menschenleben zum Opfer fordere. Um ihn zu versöhnen, zog in der früheren Zeit ein Priester aus Ellrich mit voller Prozession der Gemeinde, mit Kruzifix, Kirchenfahnen und Heiligenbildern nach der Sankt-Johannis-Kapelle in der Nähe der Höhle und dann nach dieser selbst, senkte ein Kreuz in den eisigkalten Wasserspiegel und zog es wieder daraus hervor, und dann rief er: Kommt und guckt in die Kelle, So kommt ihr nicht in die Hölle. Auch wohnt in der Kelle eine Nixe, und diese besonders hat es an der Art, Menschen in ihr Wasser zu locken, das kalt und giftig ist. Selbst ein Frosch, den einer hineinwirft, wird gleich starr und steif, was soll da erst ein Mensch tun, der kein Frosch ist! An jenem Tage, der Lissabon durch ein entsetzliches Erdbeben zerstörte (1. Nov. 1755), ward im Kehlholze über der Kelle ein seltsames unterirdisches Getöse vernommen, und in Ellrich hörte man ein langanhaltendes Krachen, wie von fernem Donner, auch zeigten die Müller an, dass das Wasser urplötzlich mit ungewöhnlicher Gewalt auf die Mühlen geschossen sei. An demselben Tage ist gleicherweise der Salzunger See in heftige Bewegung geraten, das Wasser ist in die Tiefe hinab wie in einen Trichter gestrudelt und dann wieder mit Rauschen und Brausen hervorgebrochen, so dass es die Ufer überflutet hat. Das hat in den zwanziger Jahren noch ein alter glaubhafter Mann erzählt, der es selbst gesehen, dennoch haben es Neugescheite verlacht und für Fabel erklären wollen. 

(Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch)


Österreich

URSPRUNG, GRÜNDUNG UND NAME DER STADT WIEN

Vom Ursprung der uralten Stadt Wien ist viel geschrieben und gefabelt worden, und es haben die Chronikenschreiber der früheren Jahrhunderte mancherlei aus gesagt, was nicht glaubhaft klingt. Einer behauptete, Wien sei nicht jünger als Rom; ein anderer erzählte, dass nicht allzulange nach der Sündflut ein Fremdling, mit Namen Abraham, sich mit den Seinen am Ufer der Donau, und zwar da niedergelassen, wo heutzutage der Markt Stockerau gelegen ist; welcher Abraham dann zur Erbauung Wiens den ersten Grund gelegt. Noch andere haben geschrieben, dass ein naher Nachkomme des Erzvaters Noah, der ein König der Deutschen gewesen und Suevus geheißen, bereits im Jahre der Welt Zweitausendzweihundertundachtzig den Anfang zur Erbauung Wiens gemacht habe. Auch sind viele Schriftsteller der Meinung gewesen, dass die Römer bei ihrem mächtigen Vordringen in die germanischen Wälder da, wo heute Wien liegt, eine Kolonie begründet und eine Stadt gebaut, das alte Faviae, in welcher eine Reihe der römischen Kaiser bisweilen residiert, dass aber diese Römerstadt in späterer Zeit durch die feindlichen Völkerschwärme der Hunnen, Goten und Awaren bis auf die geringste Spur vernichtet worden sei. Nicht minder wird Wien eine Stadt der Winden oder Wenden genannt, daher ihr lateinischer Name Vindobona. Klarer und fester gestaltet tritt die Stadt Wien zur Zeit Kaiser Heinrichs des Städtegründers in die Geschichte. Dieser stiftete das Markgrafentum von Österreich, und Leopold der Heilige wurde des Landes erster Markgraf und Schirmvogt gegen die feindlichgesinnten Nachbarvölker, von denen die Ungarn die gefährlichsten und gefürchtetsten waren, die Leopold mit tapferer Hand besiegte. Er baute auf die Vorderseite am äußersten Rücken des Kahlenberges, die heute noch nach ihm Leopoldsberg genannt wird, ein stattliches und starkes Schloß, das die Gegend umher beherrschte, das freien Umblick über die gesegneten Auen und sanftgehügelten Gefilde Pannoniens und Noricums bis zu den höheren Gebirgen hin gewährte und jetzt bis auf die Ringmauern in umbuschten Trümmern liegt. Bald fanden sich Anwohner in Menge, die in der reizenden Ebene am Ufer des gewaltigen Stromes und geschirmt von der nahen Fürstenburg sich Häuser bauten, und so wuchs allmählich das schöne, heitere, lebensfrohe Wien. Doch soll die Stadt diesen Namen nicht alsobald geführt haben, sondern von der alten Römerstadt Faviae oder Favianae genannt worden sein. Daraus wurde Vianae, Viennae, Wienn, wie es eigentlich noch heute heißt und gesprochen wird, und nicht Wihn, wie die Ausländer sagen. Andere halten jedoch für wahrscheinlicher, dass das kleine Flüßchen, die Wien, welches nahe der innern Stadt vorbeifließt und unterhalb derselben in die Donau fällt, ihr den Namen verliehen habe, was billig an seinen Ort gestellt bleibt. 

(Volkssagen, Märchen und Legenden des Kaiserstaates Österreich, Ludwig Bechstein, 1840)


Schweiz

DAS NEUNUHRGLÖCKLEIN VON SCHAFFHAUSEN

Zur Zeit der Kreuzzüge, als viele Ritter und Kriegsknechte ins Heilige Land gezogen waren, um das heilige Grab Christi den Ungläubigen zu entreißen, war auch ein Ritter aus der Stadt Schaffhausen, wo die schöne Erkerstraße steht, mit ihnen über das Meer gefahren. Schon lange Jahre war er aus der Heimat fort und dachte mit Schmerzen seiner lieben Frau, die er auf der stolzen Burg ob der Stadt, wo jetzt der Munot steht, zurückgelassen hatte. Und je mehr er ihrer und der schönen Heimat und der trauten Stadt am Rheinfall gedachte, desto schwerer wurde ihm zumute. Wie nun im Heiligen Lande die Waffen eine Zeitlang ruhten, übernahm ihn das Heimweh völlig. Er ließ sein Pferd satteln und zog mit seinen Kriegsknechten aus dem Lande Palästina fort, um heimzukehren. Eine unendlich lange Zeit dauerte es, bis er durch aller Herren Länder in die heimatlichen Gaue gelangte. Aber endlich sah er hie und da schon seine hochgelegene Burg aus den Hügeln auftauchen, und obwohl er noch weit von der Stadt Schaffhausen weg war, meinte er doch schon den Rheinfall rauschen und brausen zu hören. Das widerklang wie Musik in seinem Herzen. Er spornte sein Pferd und ritt, so rasch es sich bei den damaligen schlechten Prügelwegen tun ließ, der Stadt am Rheine zu. Es ging schon der Nacht zu. Noch einmal sah er von weitem die Burg aufleuchten in der blutrot hinter dräuenden Wolkenbergen verschwindenden Sonne. Dann geriet er wieder in düstere Wälder. Noch nicht lange war er mit seinen Reisigen darin geritten, so donnerte es ob dem Walde. Und unversehens brach ein fürchterliches Gewitter los. Schnaubend und gluchzend fuhr ein Sturmwind durch die Bäume, und dann begann es aus allen Himmeln wie mit Eimern zu schütten. Und es wollte nimmer nachlassen. Die Bäume boten bald keinen Schutz mehr. Sie wurden selber zu Regentraufen, und mit Ach und Krach, naß wie Wasserschnecken, brachen der Ritter und seine Kriegsknechte durch das fürchterliche Dickicht, in das sie sich verirrt hatten, denn mittlerweile war es stockfinstere Nacht geworden. Wohl leuchteten ab und zu grelle Blitze ins Waldesdüster, aber die Verirrten konnten den rechten Weg gleichwohl nicht wiederfinden. Wie sie auch riefen, niemand antwortete ihnen, denn nun setzte der Sturmwind wieder ein, der die triefenden Bäume schüttelte und ihre krausen Wipfel also wild kämmte, dass die Zweige von den Ästen gingen. Da machte der Ritter mit seinen Leuten ratlos Halt, denn er wußte nicht mehr, wo aus noch ein. Er hatte keine Ahnung, wo die Stadt Schaffhausen, wo seine Burgfeste stehen könnte. Wenn doch nur ein Hornruf oder ein Glockenklang von der hochgelegenen Burg in die Wildnis dringen würde, in der sie immer im Kreise herumzugehen schienen! Aber wie sollte der Türmer auf dem Schloß ins Horn stoßen, da er keine Ahnung hatte, dass sein Herr, den er über dem Meer im Heiligen Land glaubte, so nahe sei! Jetzt aber begann es zu stürmen und zu wettern, fürchterlicher als je. Krachend fuhren die Blitze in die Bäume, und es wurde so finster, dass die Kriegsknechte ihrem Herrn hart auf dem Fuße folgen mußten, wollten sie ihn nicht verlieren. Da hörte auf einmal der Wald auf. Jauchzend gab der Ritter seinem Pferd die Sporen. Es bäumte sich hoch auf und wollte nicht vorwärts. Er spornte es heftiger. Hoch auf sprang es nun. In diesem Augenblick erleuchtete ein flammender Blitzstrahl die Gegend taghell, und mit Entsetzen gewahrte der Kreuzritter noch, dass er mit seinem Roß in die Fluten eines still, aber reißend dahingleitenden Baches hineinsprang. Er wollte aufschreien und das Pferd zurückreißen, da packten ihn schon die Wildwasser, und es versanken Reiter und Roß. Seine Knechte aber, die den hochgehenden Bach nicht gesehen hatten, fielen nun einer nach dem andern in die trübe Flut und ertranken. Nur der letzte wurde von den Wellen ans andere Ufer gerissen, wo er sich an einer Staude zu halten und aufs Bord zu ziehen vermochte. Jetzt wurde die Gegend wieder vom Blitze erhellt, und nun erkannte der gerettete Kriegsknecht, dass er sich am wilden Bach im Mühletal befand. Aber wie er auch Ausschau nach seinem Herrn und seinen Kriegsgefährten hielt, er sah nichts mehr von ihnen, und auf all sein Rufen antwortete nur das Brausen des Sturmwindes, der Donner des sich rasch verziehenden Gewitters. Eine Weile noch wartete der Knecht. Doch als alles totenstill blieb, packte ihn ein Grausen. Er machte sich, so schnell er vermochte, auf den Weg nach dem Schlosse auf, der weithin zu sehenden Anhöhe, denn nun erkannte er, dass sie sich ganz nahe bei der Stadt Schaffhausen, ihrem heiß und lang ersehnten Ziele, befunden hatten, ohne dass sie’s gewahr worden waren. Dort wurde er gleich in die Burg eingelassen, und er berichtete der voll Jammer aufschreienden Burgfrau noch in der Nacht, welch schreckliches Unglück ihren Gatten betroffen hatte. Am anderen Morgen brachten ihre Hörigen, die die ganze Nacht den Bach abgesucht hatten, ihren Gemahl und die anderen ertrunkenen Knechte ins Schloß, wo sie aufgebahrt und danach feierlich beerdigt wurden. Der Schmerz der Edelfrau war grenzenlos. Jahrelang hatte sie sich in Sehnsucht nach ihrem geliebten Ritter verzehrt, und nun er endlich unversehens kam und ihr die größte Freude ihres Lebens geworden wäre, wurde ihr das größte Leid. Und er war doch so nahe schon ihrer Burg, so nahe ihrem Herzen, er, den sie unendlich weit weg glaubte. Hätte sie doch eine Ahnung gehabt, sie hätte ihre Burgkatze, ein unförmliches Geschütz, Tag und Nacht abfeuern lassen, und der Turmwart hätte sich an seinem Horn schier totblasen müssen. So hart vor seinem Hause mußte ihr so sehr geliebter Mann sterben. Sie war kaum zu trösten. Als aber ihr Kreuzritter und seine treuen Kriegsknechte im Grabe lagen, ließ die Edelfrau ein silbernes Glöcklein gießen. Und von dem Tage an, da man’s im hohen Wendelstein ihrer Burg aufhing, mußte es alle Nacht um neun Uhr geläutet werden, denn um neun Uhr war der Ritter ertrunken. Von nun an hörten die einsamen Wanderer, die sich etwa zu Beginn der Nacht in der Wildnis des Mühletals verliefen oder sonstwo verirrten, um neun Uhr den silbernen Klang des Burgglöck-leins und fanden sich, den traulichen Tönen nachgehend, bald in der guten Stadt Schaffhausen am Oberrhein. 

(Schweizer Sagen und Heldengeschichten, 1915)

 

Tags: Sagen

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

  • Danke


    Vielen lieben Dank für diese gelungene Zusammenstellung